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Wenn es interessiert, zum Thema Kinder und Dialekt

Wissen
Macht Dialekt gescheit?
Sprachforschung - Kinder, die Mundart sprechen, galten lange Zeit als zwangsläufig schlechte Schüler. Dabei sind sie oft besser als andere
Von Oliver Rezec
Wo Michael zu Hause ist, darüber steht in seinem Reisebericht kein Wort. Trotzdem weiß man es sofort, wenn man im Schulheft des Achtjährigen liest, was er in Ulm erlebt hat: "Dobin ie an Münster Turm aufeganga und danach san ma zum Schwimmen gegangen und dan am negsten dog dosama horm gefaren."
Kinder, die Dialekt sprechen, haben im Deutschunterricht von vornherein keine Chance auf gute Noten - das galt jahrzehntelang als ausgemacht. Doch seit in den Pisa-Tests ausgerechnet die dialektstarken Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen ganz vorn liegen, diskutieren Sprachforscher, Neurowissenschaftler und Lehrerverbände neu: Macht Dialekt am Ende sogar schlau?
Das Bild vom Mundart sprechenden Schulversager stammt aus den siebziger Jahren - und beruht auf einem Missverständnis. Eine Reihe von Studien hatte damals gezeigt, dass Dialekt spre-chende Kinder deutlich mehr Rechtschreib- und Grammatikfehler machen und zudem langsamer lesen als ihre Mitschüler. Mancher Forscher sah schon ganze Jahrgänge an dieser "Sprachbarriere" scheitern. Die Ergebnisse erregten Aufsehen - allerdings wurde ein entscheidendes Detail oft vergessen: Die Studien befassten sich lediglich mit Kindern, die ausschließlich Dialekt sprachen und vor der ersten Klasse kaum ein Wort Hochdeutsch gehört hatten.
Solche Kinder gibt es aber kaum noch. Die übergroße Mehrheit der jungen Dialektsprecher ist bis zum Schuleintritt längst durch regelmäßiges Fernsehen oder Radiohören mit dem hochdeutschen Standard vertraut. Von früher Kindheit an merken sie, dass es immer zwei Arten gibt, dasselbe auszudrücken: so, wie sie täglich in der Familie und mit ihren Freunden reden, und so, wie Papa aus der Zeitung vorliest und die Leute im Radio sprechen.
Die frühe Erkenntnis, dass Deutsch nicht gleich Deutsch ist, verschafft Dialektkindern sogar einen Vorteil, meint der Münchner Dialektforscher Anthony Rowley: "Sie realisieren früh den Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache." Eine der größten Hürden beim Schreibenlernen ist nämlich die Tatsache, dass vieles nicht so geschrieben wird, wie man es spricht: Man schreibt "heute", obwohl man "hoite" sagt, und so fort. Schüler, die nur mit dem Hochdeutschen aufgewachsen sind, werden erst im Schreibunterricht auf diese Zweischichtigkeit gestoßen und lernen mühsam, damit umzugehen. Dialektkinder sind damit schon vertraut, dass ein und dieselbe Sache verschiedene sprachliche Formen annehmen kann.
Aufsatzstunde im bayerischen Chiemgau: An der Grundschule in Altenmarkt an der Alz erinnert Lehrerin Sabine Bonert die Schüler der 2b: "Wir erzählen unsere Geschichten jetzt auf Hochdeutsch, denn so müssen wir es später auch aufschreiben."
Als Sabrina im Eifer erzählt, "dass i am Baam hengabliam bin", braucht es nur eine kleine Erinnerung der Lehrerin: "Ich bin ..." Sofort schaltet Sabrina um: "Ich bin am Baum hängen geblieben." Der schnelle Wechsel zwischen den beiden Sprachschichten kostet sie keinen Gedanken: "Des kimmt vo alloa", erklärt die Achtjährige.
Um diese "Variationskompetenz" zu erlangen, muss ein Kind nicht schon vor der Einschulung unbedingt selbst Hochdeutsch gesprochen haben: Es im Alltag zu hören genügt, ob mit Mama beim Einkaufen, wenn Besuch da ist oder auch bei Hörspielen. "Dieser Input ist existenziell wichtig", meint Rupert Hochholzer, Sprachdidaktiker an der Uni Regensburg. Da-rum sei es besonders hilfreich, wenn Eltern regelmäßig aus Büchern vorlesen. Auch Sabrina hatte Hochdeutsch vor der Schule lediglich gehört, bei Eltern und Freunden. Als sie es plötzlich selbst sprechen sollte, war sie nur kurz irritiert: "In der ersten Klass, da war i des no ned gwohnt. Aber irgendwie hob i mer denkt: Des schaff i jetz!" Nun, in der "zwoaten", gehört sie zu den Klassenbesten.
Je früher Kinder neben ihrem Dialekt auch mit dem Standarddeutschen Bekanntschaft machen, desto besser: Bis zum dritten oder vierten Lebensjahr lernen sie mühelos zwei Sprachsysteme gleichzeitig - egal, ob nun Deutsch und Griechisch oder Hochdeutsch und Pfälzisch. Zweisprachig aufgewachsene Kinder tun sich später auch beim Erlernen neuer Sprachen leichter (siehe unten). Diesen Lernvorteil haben auch junge Dialektsprecher, und zwar umso mehr, je stärker ihr Dialekt vom Hochdeutschen abweicht.
Der Dialekt selbst kann den Schülern also sogar mehr Nutzen als Nachteile bringen - das Problem sind vielmehr die Vorurteile der Zuhörer. Fast jeder Mundartsprecher kann von ähnlichen Erlebnissen berichten wie die 17-jährige Stefanie Fröde aus dem sächsischen Neukirch: Die Gymnasiastin, aufgewachsen in der Oberlausitz, musste sich in Mecklenburg-Vorpommern schon die Frage gefallen lassen: "Kannst du denn nicht ordentlich reden?"
Einige Berühmtheit erlangte auch der Zweitklässler Florian aus Otterfing, dem seine Lehrerin ins Zeugnis schrieb, er habe "Probleme, sich verständlich auszudrücken, da er zu Hause nur bayerisch" rede. Die Schule entschied später zwar, die Bemerkung zu streichen - doch das Vorurteil, das in diesem Satz steckt, ist weit verbreitet: Dialekte werden oft nur als eine schludrige Abart des Hochdeutschen gesehen. Blanker Unsinn, halten Sprachwissenschaftler dagegen: Die Mundarten seien eigenständige, voll funktionsfähige Sprachsysteme und keinesfalls "kaputtes Deutsch". In Wahrheit ist eher das Hochdeutsche eine Abart der Dialekte: Aus ihnen ist es nämlich vor rund 300 Jahren entstanden. Vorher sprach jeder Dialekt, es gab nichts anderes.
Auch die Behauptung, die meisten Mundarten seien grässlich anzuhören, lässt der Dialektologe Rowley nicht gelten. Er sagt: Wer einen Dialekt als unschön empfinde, habe in Wahrheit eine versteckte Abneigung gegen die Sprecher dieses Dialekts. Wenn etwa jemand aus dem Nordosten Bayerns "Brouder" sagt, wenden sich Bayern südlich der Donau mit Grausen: "Bruader" müsse das natürlich heißen. Das fränkische "ou" sei eine bellende Zumutung. Eben dieser Laut aber gilt beispielsweise im Englischen als vornehmste Oxford-Variante, in Wörtern wie "low" (niedrig) oder "boat" (Boot).
Am Laut selbst könne es also nicht liegen, folgert Rowley: "Urteile über Dialekte sind nie Urteile über Sprache, sondern über Sprecher." Das Sächsische etwa, heute in Umfragen als bundesweit unbeliebtester Dialekt gebrandmarkt, galt einst als wohlklingend und angesehen: Damals saß die kurfürstliche Kanzlei in Meißen, und ihre Amtssprache war Vorbild für jeden, der etwas auf sich hielt. Luther fand, "die sächsische Sprache gehet fein leise und leicht ab". Sächsisch als Ohrenschmaus - alles eine Frage der Mode.
Eine Frage des Prestiges: Heute gilt eine andere Sprachform als vorbildlich - der hochdeutsche Standard thront über den vermeintlich minderwertigen Mundarten. Von diesem Imagedenken sind auch Lehrer nicht frei, und das kann ein Problem werden. Wenn sie nämlich den Dialekt eines Schülers zu sehr als Fehler abkanzeln, fühlt sich dieser womöglich als Person angegriffen. Denn der eigene Dialekt macht ein wichtiges Stück Identität aus: Er ist die Sprache, in der sich ein Kind mit seiner Familie und seinen Freunden unterhält, er bedeutet Heimat. Darum sei es auch ein hoffnungsloser Versuch, jemandem seine Mundart abgewöhnen zu wollen, warnt Dialektologe Rowley: "Der Lehrer wird dadurch sicher nicht erreichen, dass der Schüler freiwillig auf diesen Teil seiner Identität verzichtet. Der wird stattdessen die Schule ablehnen. Und das kann keiner wollen."
Auch der Didaktiker Hochholzer fordert "eine veränderte Sicht auf die Vielschichtigkeit der Sprache": Seinen Lehramtsstudenten versucht er, ins Bewusstsein zu bringen, "dass jede Sprachform ihren ganz eigenen Stellenwert hat: der Dialekt genauso wie das Standarddeutsche".
Sogar der größte Dichter deutscher Zunge war ausgeprägter Mundartsprecher - und manchmal ist Goethe etwas davon aufs Papier gerutscht. Im "Faust" lässt er das Gretchen beten: "Ach neige, Du Schmerzenreiche, Dein Antlitz gnädig meiner Not!" Der Reim "neische - Schmerzenreische" funktioniert nur auf Hessisch.
*Computer-Bairisch
Bast scho: in Ordnung
Ruck awengerl zruck:
Rücke ein wenig zurück
Eini: hinein
Zerst: zuerst
Pfiadi: Tschüss
Am End: am Ende
Aufi: hinauf
Buidl obi/aufi: Bildchen runter/rauf
Dialekt funktioniert wie eine zweite Muttersprache
Bis etwa zum vierten Lebensjahr lernen Kinder mühelos zwei Sprachen. Sie bilden im Gehirn ein gemeinsames Netzwerk. Wird die zweite Sprache erst im Jugendlichenalter gelernt, so wird für sie eine separate Ecke im Sprachzentrum eingerichtet. Dieser Aufwand macht das späte Sprachenlernen so mühevoll.
Eine verblüffende Entdeckung gelang Forschern an der Universität Basel. Sie untersuchten Testpersonen, die drei Sprachen beherrschen. Das Bild oben links zeigt die Hirnaktivität eines Sprechers, der mit nur einer Muttersprache aufgewachsen ist und die beiden Fremdsprachen erst als Jugendlicher gelernt hat: Jede hat ihren eigenen Platz. Der Sprecher unten wuchs zweisprachig auf. Die dritte Sprache kam später dazu, wurde aber nicht in einer separaten Ecke abgespeichert: Das doppelsprachige Netzwerk aus frühen Kindertagen nahm auch die Drittsprache auf. Sie zu lernen war also ein viel geringerer Aufwand.
Wer je ein Dialektgespräch gehört und nichts verstanden hat, weiß: Dialekte unterscheiden sich in Aussprache, Wortschatz und Grammatik oft ähnlich stark voneinander wie Sprachen. Daher haben Kinder, die neben dem Hochdeutschen eine Mundart beherrschen, ähnliche Lernvorteile wie zweisprachig aufgewachsene.
Ist Bayern wegen des Dialekts Pisa-Sieger?
* "PISA - Bayern wieder Sieger! Macht uns der Dialekt so schlau?", fragte die Münchner Ausgabe der "Bild". Die Mundartverbände jubelten: "Ja!" Aber Wissenschaftler glauben nicht an diesen einfachen Zusammenhang: Nur weil zwei Beobachtungen so schön zusammenpassen, heißt das noch lange nicht, dass sie wirklich etwas miteinander zu tun haben: Die schrumpfende Zahl der Weißstörche in Deutschland und die sinkende Geburtenrate beweisen schließlich auch nicht, dass der Storch die Babys bringt. Ähnlich abwegig sei es, die Pisa-Ergebnisse nur auf den Dialekt zurückzuführen. Auch wenn er in sprachlichen Fächern einen Lernvorteil bringen kann, ist das nur einer von zahllosen Aspekten, die über den Erfolg in der Schule entscheiden.
* Die unterschiedliche Schulpolitik in den Ländern halten Experten für viel entscheidender. Außerdem haben Eltern in wirtschaftlich starken Bundesländern bessere Möglichkeiten, ihre Kinder neben der Schule zu fördern.
* Dass die klaren Pisa-Verlierer neben Nordrhein-Westfalen vor allem die Stadtstaaten Bremen und Hamburg sind, erklären Fachleute auch aus typischen Großstadtproblemen wie größeren Klassen sowie hohen Anteilen von Scheidungskindern oder Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
* Und sollte die Mundart doch eine Rolle spielen, so die Meinung der Sprachforscher, dann höchstens als Ausdruck einer traditionelleren Einstellung, auch gegenüber dem Lernen: Hier nimmt man die Schule noch ernster.
Bisherige Antworten

Und als Germanistin und Deutschlehrerin unterschreibe ich das sofort! LG Silke

Wenn es interessiert, zum Thema Kinder und Dialekt

Hi Silke,
Sehr interessant, vor allem auch im Hinblick auf die Mehrsprachigkeit. Wenn wir in Heilbronn leben wuerden, wuerden meine Kinder ganz bestimmt schwaebisch sprechen. Nur finde ich das z.B. in unserer Situation ein bisschen 'gequaelt'. Ich habe keinen einzigen Verwandten mehr, der Dialekt spricht, was soll ich es dann den Kindern beibringen. Ich bin schon froh, wenn sie mal akzentfrei deutsch sprechen - so selbstverstaendlich ist das naemlich nicht, die Kinder meiner deutschen Freundin haben einen ganz schweren englischen Akzent beim Sprechen.
Ich war mit Oscar bei der Sprachtherapeutin, weil er mit dem Reden ein bisschen spaet dran war. Die hat gesagt, dass OPOL (one parent, one language) voellig ueberbewertet ist und dass Kinder, die zweisprachig (und da nehme ich jetzt Dialekt/Mundart mit hinzu) aufwachsen einwandfrei damit zurecht kommen, wenn die Eltern beide zwei Sprachen sprechen. Mein Mann wuchs sogar dreisprachig auf, aber in seiner Familie spricht keiner afrikaans mehr, bringt er also auch den Kindern nicht bei. Aehnlich wie bei mir und schwaebisch. Klar koennte ich jetzt meine Kinder viersprachig erziehen, aber wir machen einfach das, was fuer uns am natuerlichsten ist.
Was die Sprachtherapeutin auch noch gesagt hat, ist dass zweisprachige Kinder generell NICHT spaeter sprechen lernen, das waere Zufall, dass Oscar sich ein bisschen Zeit laesst. Und siehe da, Anna ist ganz anders - die plappert jetzt schon in der Gegend rum, wie Oscar das erst mit 18 Monaten gemacht hat. Oscar's Raffel (Heilbronner Mundart fuer Mundwerk ;-)) steht uebrigens nur noch selten still, eigentlich nur wenn er schlaeft. Und ich kriegs auch noch in 2 Sprachen ab :HEADSHOT:
LG Alex

So unterschreibe ich es auch!!!

Die Kombination macht's!

Wenn natürlich die Eltern und Bezugspersonen (ob auf Dialekt oder auf Hochdeutsch, ist wurscht) keinen graden Satz rauskriegen und dazu noch zu faul sind, wenigstens "grade Sätze" vorzulesen usw., dann bin ich der Überzeugung, dass sich das schon auf die Kinder auswirkt.Das Defizit lässt sich zwar aufholen, was aber mit viel mehr Aufwand verbunden ist...

LG, Alex mit Lucia und Jonathan

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