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Stillende Männer u.a.:

Hallo, hab zum Thema (Re-)Laktation NICHT frisch endbundenere Mütter diese historischen Berichte in einer schweizer Ärztezeitschrift gelesen:

Curiosa zum Thema Brusternährung

Stillende Männer
Als Alexander von Humboldt (1769–1859), wohl der
bedeutendste Naturforscher jener Zeiten auf seiner
«Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents
» (Abb. 2) 1799 nach Arenas, einem Dorf in der
Nähe von Cumaná (Venezuela), kam, wurde ihm dort
von einem Bauern namens Francisco Lozano berichtet,
der seinen Sohn mit der eigenen Milch gestillt
habe. Wörtlich: «Als die Mutter krank wurde, nahm
der Vater das Kind, um es zu beruhigen, in sein Bett
und drückte es an seine Brust. Lozano war 32 Jahre
alt und hatte bis anhin keine Milch in der Brust verspürt;
aber die Reizung der Warze, an der das Kind
sog, bewirkte eine Ansammlung dieser Flüssigkeit.
Die Milch war fett und sehr süss. Der Vater, über das
Anschwellen seiner Brust erstaunt, reichte sie dem
Kind und stillte es fünf Monate zwei- bis dreimal
täglich (…). Wir sahen das Protokoll der bemerkenswerten
Tatsache, an Ort und Stelle aufgenommen,
und die noch lebenden Augenzeugen versicherten
uns, der Knabe habe, solange er gestillt wurde, neben
der Vatermilch keine andere Nahrung erhalten (…).
Herr Bonpland (der ärztliche Reisbegleiter von Humboldt),
der des Vaters Brust aufmerksam untersuchte,
fand sie wie bei Frauen, welche Kinder gestillt haben,
runzelig (…). Der Gouverneur der Provinz, Don Vicente
Emparán, hat eine ausführliche Beschreibung
des Vorfalls nach Cádiz gesandt.»
Wie Humboldt anschliessend weiter ausführt, hat
Lozano, ein Weisser europäischer Abstammung, nicht
zu jenen Männern gehört, «die schon zur Zeit der
Mannbarkeit eine Brust von beträchtlichem Umfang
entwickeln» (Humboldt – übrigens auch Aristoteles –
kannte also bereits das Phänomen der Pubertätsgynäkomastie!).
Zitat: «Er hat uns wiederholt versichert,
dass ihm einzig der durch das Saugen bewirkte
Reiz der Brustwarze die Milch kommen liess. Dies bestätigt
die schon im Altertum gemachte Beobachtung3,
dass Männer, die wenig Milch haben, sie reichlich
geben, sobald man an ihren Warzen saugt. Diese
sonderbaren Wirkungen des Nervenreizes waren den
Hirten Griechenlands wohlbekannt; die Hirten auf
dem Berge Öta rieben die Zitzen von Ziegen, die noch
nicht getragen hatten, mit Nesseln, um ihnen Milch
zu verschaffen.»


Dass Männer grundsätzlich Milch haben können,
war für ihn also nichts Unglaubhaftes. Er erwähnt
auch Anatomen aus St. Petersburg, die behaupten,
dass in Russland die Milch in den Brüsten der Männer
viel häufiger sei als unter den südlicheren Nationen.
Trotzdem seien stillende Männer ausserordentlich
selten, er habe auch nach vielen Recherchen nur
zwei oder drei gefunden. So habe z.B. ein Veroneser
Anatom des 15. Jahrhunderts, Alexander Benedictus,
einen Mann beschrieben, der, um sein schreiendes
Kind nach dem Tode seiner Mutter zu besänftigen, es
an seine Brust gedrückt habe, worauf die Milch sich
bald in solcher Menge einstellte, dass der Vater sein
Kind ganz allein säugen konnte. Daneben zitiert er
noch weitere kasuistische Berichte aus der älteren
Literatur.
Die Fallbeschreibung und die weiteren Recherchen
von Humboldts lassen also kaum einen Zweifel
zu: Männer können – wenn auch nur in sehr seltenen
Fällen – grundsätzlich stillen. Worauf von Humboldt
nicht gestossen ist: Der wohl frühest dokumentierte
Fall findet sich im babylonischen Talmud (5./6.
Jh. n. Chr.). Wieder die gleiche Geschichte: «Ein Mann
verlor seine Frau, und da er kein Geld für eine Amme
hatte, ist ihm ein Wunder geschehen: es sind ihm zwei
Zitzen geöffnet worden, wie die einer Frau, und so
konnte er seinen Sohn stillen.» [4]
Bei all diesen Diskussionen um stillende Männer
fehlt selten der Hinweis, dass auch männliche Tiere,
z.B. Ziegenböcke, gelegentlich ergiebig Milch produzieren,
was nicht nur schon von Aristoteles beschrieben
wurde [3], sondern auch von der modernen Veterinärmedizin
bestätigt wird. Im Schulchan Aruch,
dem jüdischen Gesetzeskodex, wird sogar darauf verwiesen,
dass Milch von männlichen Tieren – im Gegensatz
zu derjenigen weiblicher Provenienz – «rein»
(im religiösen Sinne) sei, also auch zusammen mit
Fleisch verzehrt werden dürfe.
Der moderne Mediziner kennt keine stillenden
Männer. Zwar sind aus dem 19. Jahrhundert noch etliche
Fälle von Knott [5] überliefert worden: immer
Väter bzw. Witwer, die nach dem Tod ihrer Frau das
Kind an ihren Brustwarzen saugen liessen – nicht um
es zu ernähren, sondern zu beruhigen und zu trösten,
worauf es unverhofft zur Milchbildung kam. In einem
Falle ergab sich daraus gar eine männliche Amme.
Seither sind säugende Väter in der Fachliteratur nie
mehr in Erscheinung getreten. Wohl ist unbestritten,
dass der Mann eigentlich «alles notwendige» für
eine Laktation besitzt: eine angelegte, wenn auch
rudimentäre Drüse, die beim Neugeborenen immerhin
«Hexenmilch» produzieren kann, Mammillen,
Prolactin, Oxytocin und Östrogen, letzteres allerdings
in zu geringer Dosis. Immerhin genügt der leichte
pubertäre Östrogenanstieg, um bei manchem jungen
Mann die Drüse im Sinne einer Gynäkomastie zur
Entfaltung zu bringen. Auch gibt es Männer, die unter
einer Galaktorrhoe – meist im Rahmen einer nachweisbaren
endokrinen Erkrankung – leiden [6]. Der
Schreibende erinnert sich ausserdem an die Fallvorstellung
eines Zürcher Polizisten durch Prof. Bleuler,
eines Patienten, der wegen seines Wunsches nach
Geschlechtsumwandlung Anfang der 50er Jahre im
Burghölzli zur Abklärung weilte. Trotz normaler
männlicher körperlicher und hormoneller Befunde
(Prolactin konnte man damals allerdings noch nicht
bestimmen), gab er an, dass ihm beim Anblick eines
Säuglings immer Milch aus den Brustwarzen spritze.
Kann die tiefgreifende psychische Belastung eines
Vaters, der durch den Verlust seiner Frau das Leben
des Kindes bedroht sieht, genügen, um diese hormonellen
Umstellungen auszulösen, so dass, zusammen
mit dem peripheren Saugreiz, eine Laktation möglich
wird? Offensichtlich ja; aber wahrscheinlich nicht im
Regelfall. Es ist anzunehmen, dass nebst einer intensiven
Empfindung «mütterlicher» Gefühle, die die
Ausschüttung der entsprechenden Releasinghormone
auslösen mag, auch eine ausserordentlich hohe Ansprechbarkeit
des Drüsengewebes auf die hormonelle
Stimulation und eine besondere Sensibilität für die
taktilen Reize von seiten des saugenden Kindes vorliegen
müssen. Letzteres scheint wohl das wichtigste
Glied in der gesamten Ursachenkette zu sein; jedenfalls
hat Rohn Galaktorrhoen bei jungen Männern mit
Pubertätsgynäkomastie beschrieben, die einzig und
allein auf Grund von Manipulationen an den Brustwarzen
zustande kamen [7]. Dasselbe vermutete ja
offensichtlich auch von Humboldt bzw. sein Proband
Francisco Lozano. Kolodny et al. [8] haben ausser-dem gezeigt, dass es bei Männern durch Selbststimulation
der Mammillen – im Gegensatz zu Frauen –
zwar nicht zur Prolactinerhöhung kommt, hingegen
zu einer Steigerung um das Vierfache bei Stimulation
durch ihre Ehefrauen. Psychologische Faktoren spielen
hier also eine unerlässliche Zusatzrolle.
Dass es für eine erfolgreiche Laktation nicht unbedingt
einer unmittelbar vorangegangenen Schwangerschaft
und Geburt bedarf, ist unbestritten; es gibt
nicht nur «relaktierende» Grossmütter, sondern auch
nie entbundene Frauen, die ihr frisch adoptiertes Kind
stillen können [5]. Es wurde früher wiederholt dokumentiert,
dass selbst Virgines, z.B. ältere Schwestern
bei mütterlichem Tod sub partu oder im Kindbett notfalls
als Ammen für ein Geschwister «eingesprungen»
sind. Die Jüngste war ein von Baudelocque im 18.
Jahrhundert beschriebenes, 8jähriges Mädchen (wohl
etwas frühreif!), das sein neugeborenes Brüderchen
während 5 Wochen gestillt hat (in [6, 9]).

(Erste, vom Autor genehmigte deutsche Ausgabe (1859) des Berichtes über seine Reise, die
Alexander von Humbolt 1799–1804 in die nördlichen Staaten Lateinamerikas führte. Der
Originalbericht erschien 1807–1825 in 30 Bänden in französischer Sprache: «Voyage aux
régions équinoxiales du Nouveau Continent»; gilt als grösster privater Reisebericht der
Weltliteratur.
3 In den folgenden Aussagen zitiert von Humboldt Aristoteles: Historia
animalium [3].
Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2000;81: Nr 20 1061 Editores Medicorum Helveticorum)

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